
Was die Physik betrifft, mangelt es Glas an Transparenz. Niemand war in der Lage zu beobachten, was auf molekularer Ebene geschieht, wenn eine stark abgekühlte Flüssigkeit den Glaszustand erreicht – bis jetzt. Physiker der Emory University haben ein Video von der Teilchenbewegung während dieser rätselhaften Verwandlung gemacht.
Ihre Ergebnisse zeigen, wie die Rotation der Teilchen von ihrer Bewegung durch den Raum entkoppelt wird. Sie werden in den Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht.
“Die Abkühlung eines Glases von einer Flüssigkeit in einen hochgradig viskosen Zustand ändert die Natur der Partikeldiffusion grundlegend”, sagt der Physiker Eric Weeks von der Emory University, dessen Labor die Forschungsarbeit durchführte. “Wir haben die erste direkte Beobachtung geliefert, wie sich die Teilchen während dieser Verwandlung bewegen und durch den Raum taumeln, ein Schlüsselteil zu einem wichtigen Puzzle in der Physik der kondensierten Materie.”
Weeks hat sich auf “weiche kondensierte Materialien” spezialisiert – Substanzen, die auf molekularer Ebene nicht als fest oder flüssig charakterisiert werden können, darunter alltägliche Substanzen wie Zahnpasta, Erdnussbutter, Rasierschaum, Plastik und Glas.
Wissenschaftler verstehen den Prozess, durch den sich Wasser in Eis verwandelt. Wenn die Temperatur sinkt, verlangsamt sich die Bewegung der Wassermoleküle. Bei 0 Grad Celsius (32 Grad Fahrenheit) werden die Moleküle in Kristallgittern gebunden und verfestigen sich zu Eis. Im Gegensatz dazu kristallisieren die Glasmoleküle nicht. Die Bewegung der Glasmoleküle verlangsamt sich mit abnehmender Temperatur, aber sie binden sich nicht in Kristallstrukturen. Stattdessen werden sie durcheinander geworfen und allmählich klarer, oder zähflüssiger. Niemand versteht genau, warum das so ist.
Das Phänomen lässt Physiker über die Frage nachdenken, ob Glas fest ist, oder ob es mehr eine sich extrem langsam bewegende Flüssigkeit ist. Diese rein technische Physikfrage hat ein bekanntes Missverständnis geschürt: Dass das Glas in den Fensterscheiben einiger Jahrhunderte alter Gebäude unten dicker ist, weil das Glas mit der Zeit nach unten floss.
“Der wirkliche Grund für den dickeren unteren Teil ist, dass sie noch nicht gelernt hatten, perfekt flache Glasscheiben zu machen”, sagt Weeks. “Für praktische Zwecke ist Glas ein Festkörper und wird nicht fließen, auch nicht in Jahrhunderten. Aber es gibt einen wahren Kern in dieser urbanen Legende: Glas ist anders als andere feste Materialien.”
Video-Link: https://youtu.be/GgkcF7qaMuY
Video mit weiteren Informationen über die Experimente. (Kazem Edmond / Emory University)
Um zu erforschen, was Glas anders macht, verwendet Weeks Labor Gemische aus Wasser und winzigen Plastikkügelchen, jedes etwa von der Größe eines Zellkerns. Dieses Modellsystem agiert wie Glas, wenn die Teilchenkonzentration erhöht wird. Ein großer Nachteil dieses Modells ist, dass richtige Glasmoleküle nicht sphärisch sind, sondern eine irreguläre Form aufweisen.
“Wenn sich die heiße, geschmolzene Flüssigkeit, aus der Glas entsteht, abkühlt, bedeutet das nicht nur, dass die Viskosität enorm wird und um den Faktor von einer Milliarde zunimmt, sondern es ist auch etwas anders an der Art und Weise, wie sich die Teilchen bewegen”, sagt Weeks. “Wir wollten ein Experiment entwickelt, das uns erlauben würde, diese Bewegung zu beobachten, aber Kugeln bewegen sich anders als irreguläre Formen.”
Im Jahr 2011 entwickelte das Physiklabor von David Pine an der New York University jedoch eine Möglichkeit, um Gruppen dieser winzigen Plastikkügelchen zusammenzubringen, damit sie Tetraeder bilden. Während seiner Zeit als Student an der Emory University fügte Kazem Edmond diese vielflächigen Teilchen dem Glasmodellsystem hinzu und leitete die Experimente. Unter Verwendung eines konfokalen Mikroskops scannte er die Proben digital bei zunehmender Viskosität und erzeugte bis zu 100 Bilder pro Sekunde. Das Ergebnis waren dreidimensionale Videos, die die Bewegung und das Verhalten der Tetraeder zeigten, als das System den Glaszustand erreichte.
Das Video und die Daten des Experiments liefern das erste klare Bild der Teilchendynamik bei der Bildung von Glas. Wenn die Flüssigkeit nach und nach zähflüssiger wird, verlangsamt sich sowohl die Rotationsbewegung als auch die gerichtete Bewegung der Teilchen. Die Anzahl der Rotationsbewegungen und der gerichteten Bewegungen bleiben zusammenhängend.
“Normalerweise sind diese zwei Bewegungsarten hochgradig miteinander verknüpft”, sagt Weeks. “Das bleibt so, bis das System eine Viskosität an der Grenze zu Glas erreicht. Dann werden die Rotationsbewegungen und die gerichteten Bewegungen entkoppelt: Die Rotation beginnt sich stärker zu verlangsamen.”
Er benutzt einen vollen Parkplatz als Analogie für das Verhalten der Teilchen. “Man kann sein Auto nicht wenden, weil es nicht kugelförmig ist und man in das benachbarte Auto krachen würde. Man muss warten, bis sich ein Auto vor einem bewegt und dann kann man ein wenig in diese Richtung fahren. Das ist die gerichtete Bewegung und wenn man ein paar davon macht, ist man letztendlich in der Lage, das Auto zu wenden. Aber das Wenden auf einem vollen Parkplatz ist noch viel schwieriger als die Bewegung in einer geraden Linie.”
Vorherige Forschungsarbeiten haben durch Experimente mit richtigen molekularen Glasarten auf diese Bewegungsentkopplung hingedeutet. Das Labor von Weeks verwendete ein einfaches Modellsystem, um glasartiges Material zu simulieren, so dass man den Entkopplungsprozess tatsächlich beobachten kann, wenn er stattfindet.
“Glas ist wichtig im Alltagsleben”, sagt Weeks. “Je genauer wir seine grundlegende Natur verstehen, desto besser sind wir möglicherweise in der Lage, es zu verbessern und es auf verschiedene Arten zu gebrauchen. Beispielsweise ist ein Grund dafür, dass Smartphones kleiner und besser werden, die Tatsache, dass stärkeres und dünneres Glas entwickelt wird.”
Quelle: http://esciencecommons.blogspot.de/2012/10/physicists-crack-another-piece-of-glass.html
(THK)
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