Wie langsam ist „langsam“? EXO weiß es

Ein sehr sauberer Knut Skarpaas, SLAC-Ingenieur, mit einer Hälfte des EXO-200-Detektors (Photo courtesy of the EXO Collaboration)
Ein sehr sauberer Knut Skarpaas, SLAC-Ingenieur, mit einer Hälfte des EXO-200-Detektors (Photo courtesy of the EXO Collaboration)

Köche denken an die beobachteten Töpfe. Handwerker murren über trocknende Farbe. Kinder fürchten die endlose Nacht vor dem Weihnachtsmorgen.

Es stellt sich heraus, dass Physiker ihren eigenen Ausdruck haben, um das Konzept von „langsam“ zu vermitteln und dank dem Enriched Xenon Observatory (EXO) wissen sie jetzt, wie langsam „langsam“ wirklich ist: Die hektische Aktivität in den 13,75 Milliarden Jahren seit dem Urknall bis heute war geradezu hastig im Vergleich dazu.

Der Ausdruck ist „2nubb“ und er steht für „two-neutrino double-beta Decay“ (auf deutsch „Zwei-Neutrino Doppel-Beta-Zerfall“), einem seltenen Typ von Teilchenzerfall, der bei bestimmten Formen radioaktiver Elemente auftritt. Bei diesem Zerfallstyp zerfallen zwei Neutronen – die neutralen subatomaren Partikel in einem Atomkern – spontan in zwei Protonen, zwei Elektronen und zwei Antineutrinos, welche der Antimaterie-Zwilling der kleinen, nahezu masselosen, rätselhaften Teilchen namens Neutrinos sind. Das EXO-Team verkündete am vergangenen Mittwoch (7.9.2011) auf einer Konferenz in München, dass der Prozess ihren Messungen des Zwei-Neutrino Doppel-Beta-Zerfalls in Xe-136 (einem Xenon-Isotop) zufolge eine Halbwertszeit von 2,11 * 1021 Jahren hat. Mit anderen Worten, es würde 100 Milliarden Mal länger brauchen als das Universum existiert, damit die Hälfte des radioaktiven Isotops durch den 2nubb-Zerfallsweg zerfällt.

„Das stellt den langsamsten Prozess im Standardmodell dar, der jemals gemessen wurde“, sagte Giorgo Gratta, Physiker an der Stanford University, Mitglied des SLAC-Stanford Kavli Institute for Particle Astrophysics and Cosmology und Leiter des Teams. Das Standardmodell ist die beste Beschreibung, die Wissenschaftler von den Bausteinen der Materie haben, wie die bereits erwähnten Neutronen, Protonen und Elektronen zusammenpassen und warum der Zwei-Neutrino Doppel-Beta-Zerfall überhaupt erst stattfindet.

Der Zwei-Neutrino Doppel-Beta-Zerfall passt genau in das Standardmodell, „daher war die Beobachtung nicht unerwartet“, sagte Gratta. Tatsächlich wurde dieser Zerfallsprozess schon vorher in anderen Elementen gesehen. „So gesehen, ist er nicht einmal neu.“

Trotzdem bedeuten die Ergebnisse des Teams viel mehr als nur einen Versuch, ins Guinness Buch der Rekorde zu kommen.

Der EXO-200-Detektor ist der erste, der den 2nubb-Zerfallsprozess in Xe-136 registriert und die Messung basiert auf Daten, die im Laufe von über einem Monat gesammelt wurden – „bemerkenswert saubere“ Daten, mit sehr geringen Störungen durch Hintergrundrauschen, erklärte Gratta. Dieses starke Signal hat Theoretikern wertvolle Daten geliefert und sie in die Lage versetzt, rätselhafte Abweichungen zwischen ihren Berechnungen und den Ergebnissen vorheriger Experimente zu lösen.

Aber das Experiment ist noch lange nicht vorbei und die Geschwindigkeit und Klarheit dieser frühen Ergebnisse verheißen Gutes für das Team, wenn sie mit ihrer richtigen Arbeit beginnen.

Was das EXO-200-Team finden will, ist ein anderer Zerfallsprozess – einer, der nicht nur viel seltener ist als 2nubb, sondern einer, von dem niemand weiß, ob er tatsächlich existiert. Er wird Zero-Neutrino Doppel-Beta-Zerfall oder 0nubb genannt und ist entschiedenermaßen kein Prozess des Standardmodells.

Bei dem 0nubb-Prozess zerfallen zwei Neutronen einmal mehr in zwei Protonen und zwei Elektronen, aber die Antineutrinos werden nicht gefunden. Sie müssen da gewesen sein, die zwei Antineutrinos müssen sich gegenseitig ausgelöscht haben, so wie Positronen und Elektronen sich gegenseitig auslöschen können oder Protonen und Antiprotonen oder jedes Teilchen und dessen Antiteilchen.

Das bedeutet, damit der 0nubb-Zerfall auftreten kann, müssen Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sein.

So seltsam das klingt, die Möglichkeit eines Teilchens, das sowohl es selbst und sein Anti-Selbst sein könnte, wurde 1937 von dem italienischen Teilchenphysiker und Theoretiker namens Ettore Majorana postuliert. Solche Teilchen werden Majorana-Teilchen genannt und falls sie existieren, würden Physiker sich damit beschäftigen müssen, das Standardmodell zu überdenken.

„Dies ist ein Zerfall, den Menschen seit einer langen Zeit versucht haben zu finden“, sagte Gratta.

„Der Zero-Neutrino Doppel-Beta-Zerfall wäre etwas ganz Großes“, stimmt der SLAC-Physiker und EXO-Teammitglied Marty Breidenbach zu. Er erklärte, wie das EXO-200-Experiment beabsichtigt, diesem Preis nachzujagen. Es läuft alles auf das Eine hinaus, man muss zwischen zwei Dingen unterscheiden: Etwas, das aufgrund seiner Seltenheit nahezu unmöglich zu beobachten ist und Etwas, das definitiv unmöglich zu beobachten ist, weil es vielleicht nicht existiert.

Die Hauptstrategie des Teams ist es, den 0nubb-Zerfallsprozessen möglichst viele Gelegenheiten zu geben stattzufinden und möglichst wenig Orte zu geben, um sich zu verstecken. Eine Detektorkammer mit 200 Kilogramm flüssigem Xenon kümmert sich um die erste Strategie – das Xenon wurde angereichert, bis es zu 80 Prozent aus Xe-136, dem Doppel-Beta-Isotop besteht – aber die zweite Strategie ist ein wenig schwieriger.

Um sicherzustellen, dass sie 0nubb- oder 2nubb-Zerfallsprozesse erkennen, musste das Team jede andere Quelle von Radioaktivität ausgrenzen, die sie ausgrenzen konnten. Die Ausrüstung aus ultrareinen, ultrasauberen, nicht-radioaktiven Materialien wurde an der Stanford University konstruiert und in die Chihuahuan-Wüste nahe Carlsbad (New Mexico) gefahren – nicht geflogen, weil das Fliegen sie mehr kosmischer Strahlung ausgesetzt hätte. Dort wurde sie über eine halbe Meile tief in einem Salzstock platziert, der vom Waste Isolation Pilot Plant benutzt wird, einem Lager für nukleare Abfälle des Energieministeriums. Die Wahl mag seltsam erscheinen, aber der Grund war einleuchtend. Das selbe Salz, dass die Radioaktivität der nuklearen Abfälle in dem Lager gefangen hält, hält auch die Radioaktivität kosmischer Strahlung und radioaktiv zerfallendes Gestein von dem EXO-200-Detektor fern.

Wie die niedrige Hintergrundstrahlung in ihren ersten Ergebnissen zeigt, scheint die EXO-200-Strategie zu funktionieren. Breidenbach zufolge wird das Experiment noch für mehrere Jahre, möglicherweise bis zu fünf Jahre lang Daten sammeln, abhängig von dem Fortschritt des „Full EXO“, einem in der Entwicklung befindlichen Experiment, das mehrere Tonnen Xe-136 verwendet.

„EXO-200 war immer als Pilotprojekt konzipiert“, sagte Breidenbach. „Wir betreiben aktiv Forschung und Entwicklung für Full Exo.“

Quelle: https://news.slac.stanford.edu/features/how-slow-slow-exo-knows

(THK)

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