
Wissenschaftler sind erstmals in der Lage gewesen, die innere, dreidimensionale Struktur des Rückgrats früher Tetrapoden (Landwirbeltiere), den frühesten vierbeinigen Tieren, zu rekonstruieren. Hochenergetische Röntgenstrahlen und ein neues Datenextraktionsprotokoll erlaubten den Forschern, die Rückgrate der 360 Millionen Jahre alten Fossilien in außergewöhnlichen Einzelheiten zu rekonstruieren und neues Licht darauf zu werfen, wie die ersten Wirbeltiere vom Wasser an Land gingen. Die Ergebnisse wurden am 13. Januar 2013 im Journal Nature veröffentlicht.
Das internationale Forschungsteam wurde von Stephanie E. Pierce (Royal Veterinary College in London) und Jennifer A. Clack (University of Cambridge) geleitet. Es umfasste auch Wissenschaftler der Uppsala University in Schweden und der European Synchrotron Radiation Facility ESRF in Grenoble (Frankreich).
Tetrapoden sind Wirbeltiere mit vier Gliedmaßen, die heute von Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren repräsentiert werden. Vor etwa 400 Millionen Jahren waren frühe Tetrapoden die ersten Wirbeltiere, die kurze Ausflüge in seichtere Gewässer machten, wo sie ihre vier Gliedmaßen nutzten, um sich fortzubewegen. Wie dies geschah und wie sie dann an Land gingen, ist Gegenstand intensiver Debatten unter Paläontologen und Evolutionsbiologen.
Alle Tetrapoden besitzen ein Rückgrat (eine Wirbelsäule), das ist eine knochige Struktur, die alle anderen Wirbeltieren gemeinsam haben – auch Fische, aus denen sie sich entwickelten. Ein Rückgrat wird aus Wirbeln gebildet, die in einer Reihe angeordnet sind, vom Kopf bis zum Schwanz. Im Gegensatz zu dem Rückgrat lebender Tetrapoden (wie zum Beispiel Menschen), in dem jeder Wirbel aus nur einem Knochen besteht, besaßen frühe Tetrapoden Wirbel, die aus mehreren Teilen bestanden.
„Seit mehr als 100 Jahren dachte man, dass die Wirbel früher Tetrapoden aus drei Knochenteilen bestanden: einem Knochen vorne, einem oben und einem Knochenpaar hinten. Aber indem wir mittels Synchrotron-Röntgenstrahlen in die Fossilien hineinblickten, haben wir entdeckt, dass diese traditionelle Ansicht wortwörtlich verkehrt herum war“, sagt Stephanie Pierce, die leitende Autorin der Veröffentlichung.
Video-Link: https://youtu.be/E4SLU7UmoK8
Detailaufnahme der Wirbel von Acanthostega gunnari. (S.E. Pierce / ESRF)
Für die Analyse an der European Synchrotron Radiation Facility (ESRF) in Frankreich, wo die drei fossilen Fragmente mit Röntgenstrahlen gescannt wurden, wandte man eine Datenextraktionsmethode an, um winzige Einzelheiten der fossilen Knochen zu enthüllen, welche tief in der Gesteinsmatrix verborgen waren. Die versteinerten Knochen sind in so dichtes Gestein eingebettet, dass es den Großteil der Röntgenstrahlung absorbiert. „Ohne die neue Methode wäre es nicht möglich gewesen, die Elemente des Rückgrats in drei Dimensionen mit einer Auflösung von 30 Mikrometern zu enthüllen“, sagt Sophie Sanchez, eine Co-Autorin der Veröffentlichung von der Uppsala University und der ESRF.
Auf diesen hochaufgelösten Röntgenbildern entdeckten die Forscher, das jener Knochen, der für den ersten gehalten wurde (Intercentrum genannt), in Wirklichkeit der letzte in der Reihenfolge ist. Und, obwohl dies wie ein einfaches Versehen scheint, hat diese Neuanordnung der Wirbelstruktur weitreichende Auswirkungen auf die funktionelle Entwicklung des Rückgrats von Tetrapoden.
Stephanie Pierce erklärt: „Durch die Erkenntnis, wie jeder der Knochen ineinandergreift, können wir beginnen, die Mobilität der Wirbelsäule zu erforschen und zu testen, wie sie während der frühen Stadien des Landgangs Kräfte zwischen den Gliedmaßen übertragen hat.“
Aber die Ergebnisse hören hier nicht auf. Bei einem der Tiere (Ichthyostega) wurde zudem eine Reihe bislang unbekannter Skelettmerkmale gefunden, darunter eine Knochenfolge, die sich an der Mitte seines Brustkorbs entlang erstreckt. Jennifer Clack sagt: „Diese Brustkorbknochen stellten sich als der früheste evolutionäre Versuch heraus, ein knochiges Brustbein (Sternum) hervorzubringen. Solch eine Struktur hätte den Brustkorb von Ichthyostega gestärkt und dem Tier erlaubt, sein Körpergewicht auf ihm zu stützen, während es sich an Land fortbewegt.“
Diese unerwartete Entdeckung untermauert kürzliche Forschungsarbeiten von Pierce und Clack, die zeigten, dass Ichthyostega sich möglicherweise fortbewegte, indem es sich mittels synchroner „Klammerbewegungen“ seiner Vorderbeine selbst über flachen Boden zog – ähnlich wie ein Schlammspringer oder ein Seehund. Dr. Pierce ergänzt: „Die Ergebnisse dieser Studie zwingen uns, die Lehrbücher über die Evolution der Wirbelsäule und der frühesten Tiere mit Gliedmaßen neu zu schreiben.“
„Das neue Datenextraktionsprotokoll an der ESRF macht es möglich, Fossilien in dichtem und schwerem Gestein in beispiellosen Einzelheiten zu untersuchen. Was wir heute gesehen haben, ist nur der Anfang von vielen weiteren Überraschungen“, schlussfolgert Sophie Sanchez.
Quelle: http://www.esrf.eu/news/general/tetrapodbackbone/
(THK)
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