Ingenieure des Caltech haben entdeckt, dass Leonardo da Vincis Verständnis der Gravitation – wenngleich nicht ganz präzise – seiner Zeit um Jahrhunderte voraus war.
In einem Artikel, der im Journal Leonardo veröffentlicht wurde, werfen die Forscher einen neuen Blick auf eines von da Vincis Notizbüchern, um zu zeigen, dass der berühmte Universalgelehrte Experimente durchgeführt hatte, womit er demonstrieren wollte, dass die Gravitation eine Form der Beschleunigung ist. Und dass er die Gravitationskonstante mit etwa 97 Prozent Genauigkeit bestimmt hatte.
Da Vinci lebte von 1452 bis 1519 und war bei der Erforschung dieser Konzepte seiner Zeit weit voraus. Erst 1604 vermutete Galileo Galilei, dass die von einem fallenden Objekt zurückgelegte Distanz proportional zum Quadrat der verstrichenen Zeit ist. Und erst im späten 17. Jahrhundert baute Sir Isaac Newton darauf auf, um ein universelles Gravitationsgesetz zu entwickeln, das die gegenseitige Anziehung von Objekten beschreibt. Da Vincis größtes Hindernis waren die Hilfsmittel, die ihm zur Verfügung standen. Beispielsweise fehlte ihm ein Instrument, um die Fallzeit eines Objekts präzise zu messen.
Da Vincis Experimente wurden zuerst von dem Hans W. Liepmann Professor for Aeronautics and Medical Engineering, Mory Gharib, in dem Codex Arundel entdeckt. Das ist eine Sammlung von Notizen, die da Vinci über Wissenschaft, Kunst und persönliche Themen verfasste. Anfang 2017 erforschte Gharib da Vincis Techniken der Strömungsvisualisierung, um sie mit Studenten zu diskutieren, als er eine Reihe von Zeichnungen bemerkte. Sie zeigten Dreiecke in dem neu veröffentlichten Codex Arundel, die von sandähnlichen Teilchen erzeugt wurden, welche aus einem Becher fielen. Der Codex Arundel kann online in der British Library angeschaut werden.
“Er schrieb ‘Equatione di Moti’ auf die Hypotenuse eines seiner gezeichneten Dreiecke, ein gleichschenkliges, rechtwinkliges Dreieck”, sagte Gharib, der Hauptautor der Studie. “Ich wollte wissen, was Leonardo mit dem Ausdruck meinte.”
Um die Notizen zu analysieren, arbeitete Gharib mit seinen Kollegen Chris Roh (zu der Zeit Postdoktorand am Caltech und jetzt Assistenzprofessor an der Cornell University) und Flavio Noca von der University of Applied Sciences and Arts Western Switzerland in Genf (Schweiz) zusammen.
Noca lieferte Übersetzungen von da Vincis italienischen Notizen (die in seiner berühmten linkshändigen Spiegelschrift verfasst sind, welche man von rechts nach links liest). Das Trio grübelte über die Diagramme des Manuskripts nach.
In den Notizen beschreibt da Vinci ein Experiment, in dem ein Wasserkrug entlang einer geraden Linie parallel zum Boden bewegt wird und entweder Wasser oder ein körniges Material (höchstwahrscheinlich Sand) auskippt. Seine Notizen machen deutlich, dass er sich dessen bewusst war, dass das Wasser oder der Sand nicht mit einer konstanten Geschwindigkeit herabfällt, sondern dass es beschleunigt. Auch war ihm bewusst, dass das Material horizontal nicht mehr beschleunigt, weil es nicht länger von dem Krug beeinflusst wird, und dass seine Beschleunigung allein nach unten aufgrund der Gravitation erfolgt.
Wenn sich der Krug mit einer konstanten Geschwindigkeit bewegt, ist die Linie aus herabfallendem Material vertikal, also entsteht kein Dreieck. Wenn sich der Krug mit einer konstanten Rate beschleunigt, beschreibt die von dem fallenden Material erzeugte Linie eine gerade, aber schräge Linie, die dann ein Dreieck bildet. Und wie da Vinci in einem Schlüsseldiagramm hervorhob, erzeugt das fallende Material ein gleichseitiges Dreieck, wenn der Krug mit derselben Rate beschleunigt wird wie die Gravitation das fallende Material beschleunigt. Das ist es, was Gharib ursprünglich bemerkte und was da Vinci mit der Notiz “Equatione di Moti” oder “Äquivalenz der Bewegungen” betonte.
Da Vinci wollte diese Beschleunigung mathematisch beschreiben. Hier traf er den Autoren der Studie zufolge nicht richtig ins Schwarze. Um da Vincis Prozess zu verfolgen, nutzte das Team Computermodelle zur Durchführung seines Wasserkrugexperiments. Dabei wurde da Vincis Fehler offensichtlich.
“Wir sahen, dass Leonardo damit rang, aber er modellierte es so, dass die Distanz des fallenden Objekts proportional zu 2t ist anstatt proportional zu t2, wobei t die Zeit darstellt”, sagte Roh. “Das ist falsch, aber später stellten wir fest, dass er diese Art von falscher Gleichung auf die korrekte Weise anwandte.” In seinen Notizen illustrierte da Vinci ein Objekt, das bis zu vier Zeitintervalle lang fällt – eine Zeitspanne, bei der die Graphen beider Gleichungen eng beieinander verlaufen.
“Wir wissen nicht, ob da Vinci weitere Experimente durchführte oder seine Fragestellung tiefgehender untersuchte”, sagte Gharib. “Aber die Tatsache, dass er sich mit diesem Problem auf diese Art auseinandersetzte – in den frühen 1500er Jahren – demonstriert, wie weit voraus seine Denkweise tatsächlich war.”
Die Studie trägt den Titel “Leonardo da Vinci’s Visualization of Gravity as a Form of Acceleration“.
(THK)
Antworten