Karzinogenese könnte möglicherweise eine Form der Artenentwicklung sein

Normaler Karyotyp eines Mannes (P. Duesberg / Univ. Berkeley)
Normaler Karyotyp eines Mannes (P. Duesberg / Univ. Berkeley)

Krebspatienten sehen ihre Tumore möglicherweise als Parasiten an, die ihren Körper übernehmen wollen, doch für Peter Duesberg, einem Professor für Molekular- und Zellbiologie an der University of California in Berkeley, ist dies mehr als eine bloße Metapher.

Er sagt, dass kanzeröse Tumore parasitäre Organismen sind. Jeder von ihnen stellt eine neue Spezies dar, die, wie die meisten Parasiten, wegen ihrer Ernährung zwar von ihrem Wirt abhängig sind, auf der anderen Seite aber unabhängig von ihm agieren und das sehr oft zum Nachteil ihres Wirtes.

In einer Studie, die Anfang Juli im Fachjournal Cell Cycle veröffentlicht wurde, beschreiben Duesberg und seine Kollegen von der UC Berkeley ihre Theorie, dass Karzinogenese – die Entwicklung von Krebs – nur eine andere Art von Spezifikation ist, die Entwicklung einer neuen Art.

„Krebs ist vergleichbar mit dem Komplexitätslevel von Bakterien, also immerhin autonom, was bedeutet, dass er nicht von anderen Zellen abhängig ist, um zu überleben, er befolgt nicht Anweisungen, wie die anderen Zellen im Körper und er kann wachsen, wo, wann und wie er möchte“, so Duesberg. „Das ist es, was eine Spezies ausmacht.“

Diese neuartige Sicht auf den Krebs könnte neue Einblicke in das Wachstum und die Metastasierung von Krebs bringen, meint Duesberg, und vielleicht sogar neue Therapieansätze oder neue Ziele für Medikamente. Außerdem könnte man Krebs vielleicht sogar früher feststellen, weil die „gestörten“ Chromosomen von frisch entwickeltem Krebs unter dem Mikroskop sichtbar sind. Vergleichbar ist das mit den heutzutage üblichen PAP-Abstrichen, wo Veränderungen in der Form der Zellen ein Indikator für Probleme bei den Chromosomen sind, die zu Gebärmutterhalskrebs führen können.

Karzinogenese und Evolution

Die Idee, dass die Krebsentstehung ähnlich der Ausbildung einer neuen Spezies ist, ist nicht ganz neu und verschiedene Biologen hatten am Ende des 20. Jahrhunderts schon darauf hingewiesen. Der Entwicklungsbiologe Julian S. Huxley schrieb bereits 1956, dass „sobald ein neoplastischer Prozess die Schwelle der Autonomie überschritten hat, der daraus entstandene Tumor logischerweise dann als neue biologische Art betrachtet werden kann…“

Im letzten Jahr argumentierte Dr. Mark Vincent vom London Regional Cancer Program und der University of Western Ontario in der Zeitschrift Evolution, das Karzinogenese und die klonale Entwicklung von Krebszellen Artenbildung streng nach Darwins Definition sind.

Die Entwicklung von Krebs „scheint auf gewisse Weise anders als die Entwicklung zum Beispiel von Grashüpfern zu sein, weil das Krebsgenom im Gegensatz zu anderen Spezies kein stabiles Genom ist. Die entscheidende Frage ist: Was ist daraus geworden?“, sagte Vincent in einem Interview. „Duesbergs Argumentation mit dem Karyotyp unterscheidet sich von meinem Argument der Definition einer Art, doch es ist stimmig.“

Vincent merkt an, dass es drei bekannte übertragbare Krebsarten gibt, darunter auch den Gesichtstumor beim Tasmanischen Teufel, einem „parasitären Krebs“, der Tasmanische Teufel befällt und tötet. Er wird nur durch eine einzige Krebszelle von einem Tier zum anderen übertragen. Eine ähnlich parasitäre Krebsart – der Canine Transmissible Venereal Tumor [(CTVT), auch als Sticker-Sarkom oder Sticker-Tumor bekannt; Anm. d. Red.] – wird von einer einzelnen Tumorzelle zwischen Hunden übertragen, die ein Genom aus der Zeit besitzt, in der Hunde erstmals domestiziert wurden. Eine dritte übertragbare Krebsart wurde bei Hamstern festgestellt.

„Krebs wurde also zu einem erfolgreichen Parasiten“, so Vincent.

Mutationstheorie vs. Aneuploidie

Duesbergs Argumenskette entsteht aus der kontroversen Annahme, dass die vorherrschende Theorie zur Krebsentstehung – dass Tumore entstehen, wenn eine Handvoll mutierter Gene eine Zelle zu unkontrolliertem Wachstum anregt – falsch ist. Stattdessen argumentiert er, dass Karzinogenese von einer Störung der Chromosomen ausgelöst wird, welche zu Duplikaten, Zerstörungen, Brüchen und anderen Chromosomenschäden führt, die das Gleichgewicht von zehntausenden Genen stören. Das Ergebnis davon ist eine Zelle mit völlig anderen Charaktereigenschaften – es entsteht ein neuer Phänotyp.

„Ich denke Duesberg hat Recht damit, wenn er die Mutationstheorie kritisiert, die eine Milliarden-Dollar-Medikamentenindustrie aufrecht erhält, die einzig darauf fokussiert ist, diese Mutationen zu verhindern“, so Vincent, ein Onkologe. „Bis jetzt konnten nur ganz, ganz wenige Krebsarten durch eine gezielte Medikamententherapie geheilt werden, und selbst wenn ein Medikament einem Patienten dazu verhilft, sechs oder neun Monate zu überleben, finden die Krebszellen oft einen neuen Weg, das zu umgehen.“

Solche Chromosomenstörungen, auch Aneuploidie genannt, sind bekannt dafür, dass sie Krankheiten verursachen. Das Down-Syndrom zum Beispiel wird von einem dritten Exemplar des Chromosom 21 verursacht, einem der 23 Chromosomenpaare des Menschen. Alle Krebszellen sind aneuploid, so Duesberg, auch wenn Befürworter der Mutationstheorie argumentieren, dass dies ein Folge von Krebs ist, nicht aber seine Ursache.

Duesbergs Hauptargument für seine Theorie ist, dass einige anfängliche Chromosomen-Mutationen – die vielleicht den Mechanismus stören, der die Chromosomen in Vorbereitung auf die Zellteilung dupliziert oder trennt – die Chromosomen einer Zelle zerstören, indem sie einige davon zerbrechen oder zusätzliche Kopien von anderen anlegen. Normalerweise wäre dies das Todesurteil für eine Zelle, doch in seltenen Fällen können sich solche kaputten Chromosomen möglicherweise weiter teilen, überleben und den Schaden komplizieren. Über Jahrzehnte hinweg gesehen würde die fortgesetzte Zellteilung viele nicht-überlebensfähige Zellen entstehen lassen aber auch genauso einige wenige, die sich noch selbstständig teilen und damit Krebs aussäen können.

Duesberg bekräftigt, dass Krebstumore eine neue Spezies sind, weil sie überlebensfähig genug sind, um durch die fortgesetzte Teilung stabile Chromosomenmuster entwickeln zu können, die Karyotypen genannt werden und die sich von dem Chromosomenschema ihres menschlichen Wirtes unterscheiden. Während alle heutzutage bekannten Organismen stabile Karyotypen besitzen, wobei jede Zelle genau zwei oder vier Kopien jedes Chromosoms enthält, zeigen Krebszellen einen anpassungsfähigen und nicht vorhersehbaren Karyotypen, da sie nicht nur intakte Chromosomen ihres Wirtes enthalten, sondern auch Teile, verkürzte oder auch bloße Stummel von Chromosomen.

„Wenn wir Menschen unseren Karyotypen – die Anzahl und Anordnung der Chromosomen – verändern würden, würden wir entweder sterben oder wären nicht fähig, uns fortzupflanzen oder würden uns in ganz seltenen Fällen zu einer anderen Spezies entwickeln“, so Duesberg. „Doch Krebszellen teilen sich einfach nur weiter und machen so mehr von sich. Sie müssen sich nicht um ihre Reproduktion sorgen, die empfindlich auf das Chromosomengleichgewicht reagiert. Stattdessen kann eine Krebszelle auch mit vielen zerstörten und unausgeglichenen Chromosomen überleben, wie sie in einer aneuploiden Zelle zu finden sind, solange nur die Gene für die Mitose intakt sind“, sagte er.

Der Karyotyp ändert sich bei jeder Teilung einer Krebszelle, weil die Chromosomen beschädigt werden und deshalb nicht mehr perfekt kopiert werden. Doch der Karyotyp ist „nur innerhalb eines gewissen Spielraums anpassungsfähig“ sagte Duesberg. „Innerhalb dieser Grenzen bleibt er stabil, trotz seiner Flexibilität.“

Karyographen zeigen die Varianz der Karyotypen

Duesberg und seine Kollegen haben sogenannte Karyographen entwickelt, als eine Möglichkeit, um die aneuploide Natur des Karyotyps einer Zelle und dessen Stabilität über viele Generationen in Zellkulturen aufzuzeigen. Unter Benutzung dieses Karyographen haben er und seine Kollegen mehrere Krebsarten untersucht und klar nachgewiesen, dass der Karyotyp in allen Zellen einer spezifischen Zelllinie verblüffend ähnlich ist und trotzdem total verschieden zu den Karyotypen anderer Krebsarten und sogar zum selben Krebstyp eines anderen Patienten.

Karyotyp von Gebärmutterhalskrebszellen (P. Duesberg / Univ. Berkeley)
Karyotyp von Gebärmutterhalskrebszellen (P. Duesberg / Univ. Berkeley)

Die HeLa-Zellen sind ein perfektes Beispiel dafür. Vielleicht die bekannteste Krebszelllinie der Geschichte, wurden HeLa-Zellen 1951 aus einem Zervixtumor entnommen, der letztendlich eine junge schwarze Frau namens Henrietta Lacks getötet hat. Diese 60 Jahre alte Zelllinie, die aus ihrem Krebs stammt, hat einen relativ stabilen Karyotypen, der sie Teilung für Teilung am Leben erhält.

„Sobald eine Zelle erst einmal diese Autonomiegrenze überschritten hat, ist sie eine neue Spezies“, so Duesberg. „Die HeLa-Zellen haben sich im Labor weiterentwickelt und sind jetzt sogar stabiler als sie vermutlich waren, als sie zuerst entstanden sind.“

„Die individualisierten Karyotypen von Krebs entsprechen den individuellen Karyotypen verschiedenen Spezies“, sagte Duesberg. Obwohl Biologen die Karyotypen der meisten Arten noch gar nicht differenziert haben, sind nicht zwei Arten bekannt, die die selbe Anzahl und Anordnung von Chromosomen besitzen, darunter nicht einmal beispielsweise die von Gorillas und Menschen, die 99 Prozent ihres Genmaterials teilen.

Duesberg argumentiert, dass seine Artenbildungsstheorie die Autonomie von Krebs erklärt, sowie die Unsterblichkeit und Anpassungsfähigkeit bei relativ stabilem Karyotyp. Sie erklärt auch die lange Latenzdauer zwischen der ersten Aneuploidie und voll erblühtem Krebs, da es nur eine geringe Wahrscheinlichkeit gibt, dass sich solch ein autonomer Karyotyp entwickelt.

„Es beginnt mit einer Chromosomenmutation – möglicherweise eine Aneuploidie durch Röntgenstrahlung, Zigaretten oder radioaktive Strahlung – die sich destabilisiert und eines Tages deinen Karyotypen verändert oder nicht-lebensfähig macht“, sagte er. „Die seltenen lebensfähigen Aneuploidien von Krebszellen sind, als Folge davon, die Karyotypen einer neuen Art.“

Duesberg hofft, dass seine Karzinogese-gleichberechtigt-zur- Artenbildungsstheorie zu neuen Diagnose- und Behandlungsweisen gegen den Krebs anregt. Vincent zum Beispiel vermutet, dass Krebs an der Obergrenze der Überlebensfähigkeit operiert, weil er die Anpassungsfähigkeit beibehält und sich trotzdem die Fähigkeit unendlicher Teilungen bewahrt. Die Evolution von Krebs anzukurbeln, sagte er, „könnte ihn über diese Grenze hinausbringen“.

Ein normaler menschlicher Karyotyp mit exakt zwei duplizierten Chromosomen (links) und der Karyotyp einer Blasenkrebszelle mit mehrfachen Duplikaten, fehlenden Chromosomen und unvollständigen Chromsomen (rechts) (P. Duesberg / Univ. Berkeley)
Ein normaler menschlicher Karyotyp mit exakt zwei duplizierten Chromosomen (links) und der Karyotyp einer Blasenkrebszelle mit mehrfachen Duplikaten, fehlenden Chromosomen und unvollständigen Chromsomen (rechts) (P. Duesberg / Univ. Berkeley)

Duesbergs Kollegen sind der Postdoktorand Daniele Mandrioli und die Forschungsmitarbeiterin Amanda McCormack von der UC Berkeley und der Doktorand Joshua M. Nicholson von der Abteilung für Biologische Wissenschaften am Virginia Polytechnic Institute.

Duesbergs Forschung wurde finanziert von der Abraham J. and Phyllis Katz Foundation, den Philanthropen Dr. Christian Fiala, Rajeev und Christine Joshi, Robert Leppo und Peter Rozsa von der Taubert Memorial Foundation, weiteren privaten Quellen und dem Forschungsfonds der Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg.

Quelle: http://newscenter.berkeley.edu/2011/07/26/are-cancers-newly-evolved-species/

(SOM)

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