
Um Nachforschungen über den unverstandenen Humboldt-Kalmar anzustellen, hat William Gilly von der Hopkins Marine Station Videokameras und elektronische Sensoren an den Tieren angebracht und ausgiebig ihren Lebensraum studiert, sie mit Sonar verfolgt und ihre Eier reifen lassen.
Was wirbellose Tiere angeht, ist der Humboldt-Kalmar so etwas wie ein Medienstar. Berichte über hunderte Kalmare, die im letzten Dezember in einem „Selbstmord-Rausch“ an der Küste von Santa Cruz (Kalifornien) strandeten, sind nur die jüngsten Beispiele für die eigenartige Berühmtheit der Tiere. Mit einer für Weichtiere seltenen Beliebtheit ist der Kalmar ein häufiger Gast in Abenteuerserien und wird in Artikeln über Sportfischerei regelmäßig mit furchterregenden Begriffen wie „Kannibale“ oder „Angreifer“ beschrieben. Diese morbide Aufmerksamkeit ergibt Sinn: Der Kalmar Dosidicus gigas besitzt einen rasiermesserscharfen Schnabel und Haken an seinen Saugnäpfen und kann die Größe eines erwachsenen Mannes erreichen. Aber das Horrorfilm-Image des Kalmars basiert nicht auf konkreten Beweisen.
Für Tiere, die den größten Fischereizweig von wirbellosen Tieren ausmachen, wissen wir überraschend wenig über die grundlegendsten Merkmale des Verhaltens von Tintenfischen. Jetzt, da das Tier ein Einwohner vor der kalifornischen Küste zu werden scheint und von seinem traditionellen Lebensraum vor der der peruanischen Küste weit nach Norden in den Golf von Kalifornien wandert, ist die Untersuchung dieser Kreaturen wichtiger als je zuvor.
Der Biologie-Professor William Gilly von der Stanford University ist der Experte, an den man sich wendet, wenn man die Massenstrandung von Santa Cruz verstehen will. In der letzten Dekade hat er alles über den Humboldt-Kalmar in Erfahrung gebracht, was er konnte. Mitglieder des Gilly Lab der Hopkins Marine Station haben Videokameras und elektronische Sensoren an den Tieren angebracht und ausgiebig ihren Lebensraum studiert, sie mit Sonar verfolgt und ihre Eier reifen lassen. Die Früchte ihrer Arbeit? Ein beispiellos detaillierter Einblick in das Leben als Tintenfisch.
Video-Link: https://youtu.be/cW_DXRjNCHE
Professor William Gilly spricht über den Humboldt-Kalmar und welche Geheimnisse die Kreatur noch preisgeben muss. (Stanford University)
Heimvideos
Die Crittercam der National Geographic Society dringt seit mehr als zwei Jahrzehnten in die Privatsphäre des Tierreichs ein. Es ist eine elf Kubikzentimeter große Restlichtkamera, ausgestattet mit einer Reihe empfindlicher Instrumente, um alles zu messen – von der Wassertemperatur bis zur Beschleunigung in drei Dimensionen. Das Gerät wurde an Pinguinen, Meeresschildkröten, Hyänen und einer Vielzahl anderer Tiere angebracht. Um es an Dosidicus zu befestigen, musste allerdings etwas gemogelt werden. „Ein Tintenfisch ist eine sehr biegsame Plattform für eine Kamera“, sagte Gilly. Das Gerät wurde einfach nicht dafür entwickelt, um auf einer rutschigen, knochenlosen Kreatur Halt zu finden und so war das Team gezwungen, es mit der Hilfe eines zurechtgeschnittenen Kinderbadeanzugs anzubringen, der als elastischer Ärmel diente.
Vor sechs Jahren entdeckte Gilly, dass Humboldt-Kalmare tägliche Vertikalwanderungen in der Wassersäule unternehmen: Sie verbringen die Tage in der Tiefe und steigen nachts in seichtere Gewässer auf, um zu fressen. Videos und Daten der Crittercam und Echolot-Studien, die von Kelly Benoit-Bird von der Oregon State University durchgeführt wurden, haben viele weiße Flecken in diesem Bild gefüllt.
Es stellte sich heraus, dass Humboldt-Kalmare zu bemerkenswerten Geschwindigkeitvorstößen fähig sind. Indem sie ihre sackähnlichen Körper zusammenziehen und das Wasser durch eine Röhre direkt unterhalb ihres Kopfes hinauspressen, können sich die Tiere wie ein Jet fortbewegen und kurzzeitig bis auf 20 Meter pro Sekunde oder 72 Kilometer pro Stunde beschleunigen – vergleichbar mit den schnellsten Fischen im Meer.
Die Jagd selbst umfasst die enge Koordination innerhalb großer Tintenfischgruppen – ein Verhalten, von dem man dachte, dass es eher typisch für Fische ist und nicht für Wirbellose. Das koordinierte Jagdverhalten von Dosidicus ist auch wegen eines anderen Faktors kompliziert: Gilly und Benoit-Bird fanden heraus, dass kleinere Tintenfische große Pufferzonen zwischen sich und größeren Tintenfischen aufrecht erhielten, vermutlich aufgrund der vielfach berichteten Neigung der Tiere zum Kannibalismus.
Saisonale Wanderer
Die bei der Jagd verwendete Art von Jetantrieb ist schnell aber ineffizient. Es ist bekannt, dass Dosidicus große Entfernungen zurücklegt. Markierungsstudien des Gilly Lab entlang der kalifornischen Küste zeigen, dass die Tintenfische häufig mehr als 30 Kilometer pro Tag wandern; in etwas über zwei Wochen wurden Wanderungen von bis zu 600 Kilometern aufgezeichnet.
„Für so ein kurzlebiges Tier unternehmen sie ausgedehnte Wanderungen“, sagte Lauren Bell, eine frühere Studentin an der Stanford University und Co-Autorin der Crittercam-Studie. „Es war ein Rätsel, wie sie in der Lage sein konnten, ihren Energiebedarf für Wachstum und Wanderung zu decken.“ Die Videodaten zeigen, dass die Tintenfische rund 90 Prozent der Zeit nicht sprintend verbringen, sondern etwas tun, das als „Climb-and-Ride“ (sinngemäß etwa: Aufsteigen und Gleiten) bezeichnet wird: Sie stoßen kurz nach oben und gleiten dann vorwärts, während sie sinken – dadurch sparen sie eine große Menge Energie.
Einen Großteil der vertikalen Reisezeit verbringen die Tintenfische mit der Durchquerung der sauerstoffärmsten Zone (oxygen-minimum zone, OMZ), einer Schicht aus extrem sauerstoffarmen Wasser, die im Fokus vieler Fragen über Dosidicus liegt. Sie ist sicherlich das Zentrum der Welt eines Tintenfischs: Kurz darüber befindet sich eine bunte Beutemischung, eingeengt zwischen der oberen Grenze der sauerstoffärmsten Zone und den sonnigen Oberflächengewässern und wimmelnd vor visuell orientierten Räubern. Gillys Gruppe hat diese Region als sauerstoffbegrenzte Zone (oxygen-limited zone, OLZ) bezeichnet.
Der Tintenfisch scheint in diesen strapaziösen Umgebungen gut zurechtzukommen. Julie Stewart, eine frühere Studentin am Gilly Lab, hat herausgefunden, dass die Tiere bis zu einem Drittel ihrer Zeit in der sauerstoffärmsten Zone verbringen und Mitarbeiter der University of Rhode Island haben gezeigt, dass der Tintenfisch seinen Stoffwechsel unter sauerstoffarmen Bedingungen unterdrücken kann. Diese Fähigkeit gibt dem Tintenfisch einen Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten aber auch gegenüber seinen eigenen Jägern, hauptsächlich Pottwalen. Fische und Meeressäugetiere können in sauerstoffbegrenzte Tiefen abtauchen, aber dort nicht lange verweilen. „Der Tintenfisch kann soweit wir wissen ständig in der sauerstoffbegrenzten Zone bleiben“, sagte Gilly.
Obwohl oft vermutet wurde, dass die Tintenfische nur bei Nacht jagen, wenn sie und ihre Beute in oberflächennahe Schichten wandern, deutet eine Forschungsarbeit von Louis Zeidberg (einem früheren Postdoktoranden und Stipendiaten am Gilly Lab) darauf hin, dass Dosidicus möglicherweise auch in und oberhalb der sauerstoffärmsten Zone nach Nahrung sucht. „Das Monterey Bay Aquarium Research Institute besitzt Videos, in denen die Tintenfische einfach mit ausgebreiteten Armen dahingleiten und Krill einschaufeln“, sagte Gilly. „Es ist wie das Futtern von Kartoffelchips.“ Ob diese von Tauchfahrzeugen mit hellen Lichtern gemachten Videos ein natürliches Verhalten zeigen, ist noch unklar.
Video-Link: https://youtu.be/FLGVdnWQjGs
Dieses ältere Video zeigt einen Humboldt-Kalmar in seinem natürlichen Lebensraum. Die Aufnahmen wurden im November 2010 mit einem ferngesteuerten Tauchfahrzeug im Sur Canyon südlich von Carmel (Kalifornien) gemacht. (Southwest Fisheries Science Center / NOAA)
Sauerstoffarme Schichten
Die rätselhafteste Frage, die die Tintenfische umgibt – warum sie überhaupt nach Norden wandern -, könnte auch mit der sauerstoffärmsten Zone zusammenhängen. In den letzten paar Jahrzehnten wurden die sauerstoffarmen Zonen in einer ausgedehnten Region des östlichen Pazifik (von Chile bis Alaska) größer und seichter.
Warum? Das Phänomen scheint mit den wärmer werdenden Ozeanen in Zusammenhang zu stehen. Wenn sich das Wasser an der Oberfläche erwärmt, verringert sich die Sauerstofflöslichkeit. Und wenn die Oberflächenschicht wärmer und weniger dicht wird, durchmischt sie sich in geringerem Maße mit den Schichten aus kühlerem, dichteren Wasser unter ihr, was den Transport von Sauerstoff in tiefere Schichten stark reduziert.
Monterey, wo sich die Hopkins Marine Station befindet, erlebt oft Schübe aus sauerstoffarmem Wasser. Ashley Booth, eine Technikerin am Gilly Lab, hat diese Schübe identifiziert, wie sie aus den tiefen Gewässern vor der zentralkalifornischen Küste heranrollen. Diese Situation begünstigt Lebewesen, die diese Art von kaltem, hypoxischen Wasser aushalten können – so wie Tintenfische.
Anhaltende Veränderungen der sauerstoffärmsten Zone könnten Gilly zufolge bedeutende biologische Folgen haben. Wenn die Schichten aufsteigen, verlieren die Tiere, die direkt darüber in der sauerstoffbegrenzten Zone leben, ihren Lebensraum. Sie werden gezwungen, sich in einem Raum zu sammeln, der Jahr für Jahr seichter wird, sogar wenn Tiere wie der Humboldt-Kalmar ihren Lebensraum weit nach Norden bis Sitka (Alaska) ausdehnen.
Territoriale Auseinandersetzung
Obwohl relativ wenig über die Entwicklung von Dosidicus bekannt ist, spricht eine Studie von Danna Staf (einer früheren Studentin Gillys) über Tintenfisch-Embryos dafür, dass sie nur in einem schmalen Temperaturbereich überleben können. Das werfe laut Staaf die Frage auf: „Hier lebt dieser Tintenfisch mit der enormen Ausbreitung. Aber können sie sich in dem gesamten Territorium auch wirklich vermehren?“
Im Labor begann Staaf, Eier von Dosidicus reifen zu lassen und Schlüpflinge aufzuziehen – eine mühsame Aufgabe, die den großzügigen Einsatz von Eileiterdrüsenextrakt einbezog. Sie stellte fest, dass sich die Schlüpflinge nicht entwickelten, solange die Temperatur nicht mindestens 15 Grad Celsius betrug.
Das bedeutet, dass Tintenfische in der Lage sein sollten, Eier an einem von zwei Orten zu legen: entweder in den Gewässern südlich der Vereinigten Staaten, darunter der Golf von Kalifornien und der Pazifik vor der Baja-Halbinsel, oder in vermuteten saisonalen Fortpflanzungsgebieten hunderte Kilometer vor den Küsten Kaliforniens und Oregons. Im Hinblick auf das Durchhaltevermögen von Dosidicus könnte ein in diesen entfernten Gebieten geborener Tintenfisch in einer einzigen Saison leicht vor die Küste British Columbias und zurück wandern.
Und Dosidicus hat sich bereits als ein unwillkommener Besucher in Monterey Bay bewiesen, wo er gelegentlich erscheint, um andere Tintenfische (Loligo opalescens), Sardellen, Sardinen und andere ökologisch und kommerziell wichtigen Arten zu fressen. Weiter nördlich vor Washington und British Columbia, der größten Fischereizone der kontinentalen US-Bundesstaaten, ernährt sich Dosidicus außerdem von Lachsen, Dorschen, Flundern und Seehechten.
„Man hat immer angenommen, dass der Humboldt-Kalmar als Spezies von der globalen Erwärmung profitieren würde“, sagte Bell. „Und es scheint, als würde er bereits Vorteile daraus ziehen.“ Ob der Humboldt-Kalmar seine Ausbreitung nach Norden fortsetzen wird und welche Auswirkungen dies haben wird, bleiben offene Fragen. Vorerst hält Dosidicus seine Geheimnisse in seinen Tentakeln eingeschlossen.
Quelle: http://news.stanford.edu/news/2013/march/squid-eye-view-032813.html
(THK)
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