Astronomen lösen 16 Jahre altes kosmisches Rätsel um den Blue Ring Nebula

Der Blue Ring Nebula besteht aus zwei expandierenden Gaswolken, die von einer stellaren Verschmelzung in den Weltraum katapultiert wurden. (Credits: NASA / JPL-Caltech / M. Seibert (Carnegie Institution for Science) / K. Hoadley (Caltech) / GALEX Team)
Der Blue Ring Nebula besteht aus zwei expandierenden Gaswolken, die von einer stellaren Verschmelzung in den Weltraum katapultiert wurden. (Credits: NASA / JPL-Caltech / M. Seibert (Carnegie Institution for Science) / K. Hoadley (Caltech) / GALEX Team)

Der Blue Ring Nebula, der Wissenschaftler seit mehr als einem Jahrzehnt verblüffte, scheint das jüngste bekannte Beispiel für ein Ereignis zu sein, bei dem zwei Sterne zu einem verschmolzen.
Im Jahr 2004 entdeckten Wissenschaftler mit dem Weltraumobservatorium GALEX (Galaxy Evolution Explorer) ein Objekt, wie sie es in der Milchstraßen-Galaxie noch nie zuvor beobachtet hatten: einen großen, schwachen Gasfleck mit einem Stern in seinem Zentrum.

Auf den GALEX-Bildern erschien der Fleck blau (wobei er kein für das menschliche Auge sichtbares Licht emittiert). Nachfolgende Beobachtungen offenbarten eine mächtige Ringstruktur darin, also gab das Team ihm den Namen Blue Ring Nebula. Während der nächsten 16 Jahre untersuchten sie das Objekt mit verschiedenen boden- und weltraumgestützten Teleskopen, aber je mehr sie herausfanden, desto rätselhafter schien es.

Eine neue Studie, die am 18. November 2020 im Journal Nature veröffentlicht wurde, könnte den Fall geknackt haben. Nach der Anwendung moderner theoretischer Modelle auf die Fülle an Daten, die über dieses Objekt gesammelt wurden, vermuten die Autoren, dass der Nebel (eine Gaswolke im Weltraum) wahrscheinlich aus Überresten zweier Sterne besteht, die miteinander kollidierten und zu einem einzelnen Stern verschmolzen.

Obwohl verschmolzene Sternsysteme als recht häufig vorkommend betrachtet werden, sind sie fast unmöglich direkt nach ihrer Entstehung zu untersuchen, weil sie von Überresten verdeckt werden, die durch die Kollision aufgeworfen wurden. Wenn sich die Überreste hunderttausende Jahre später erst einmal zerstreut haben, sind sie schwer zu identifizieren, weil sie unverschmolzenen Sternen ähneln.

Der Blue Ring Nebula scheint das fehlende Bindeglied zu sein: Astronomen beobachten das Sternsystem nur ein paar tausend Jahre nach der Verschmelzung, als die Hinweise auf die Vereinigung noch reichlich vorhanden sind. Es scheint das erste bekannte Beispiel für ein verschmolzenes Sternsystem in diesem Stadium zu sein.

GALEX war zwischen 2003 und 2013 in Betrieb und wurde vom Jet Propulsion Laboratory (JPL) der NASA in Südkalifornien betrieben. Es wurde entwickelt, um bei der Erforschung der Geschichte der Sternentstehung im Universum zu helfen, indem es einen Zensus der jungen Sternpopulationen in anderen Galaxien erstellt. Dafür beobachtete die Mission sowohl nahultraviolettes Licht (Wellenlängen, die etwas kleiner als sichtbares Licht sind) und fernultraviolettes Licht. Die meisten von GALEX beobachteten Objekte emittierten beides, aber der Blue Ring Nebula stach heraus, weil er nur fernultraviolette Strahlung abgab. Auf den GALEX-Bildern wird nahultraviolette Strahlung in gelben Farbtönen dargestellt, fernultraviolette Strahlung in blauen Farbtönen.

Die Größe des Objekts war mit der eines Supernova-Überrests oder eines planetarischen Nebels vergleichbar. Supernova-Überreste entstehen, wenn ein massereicher Stern seinen Brennstoff aufgebraucht hat und explodiert. Planetarische Nebel sind die Überreste von sonnenähnlichen Sternen. Aber der Blue Ring Nebel besaß einen aktiven Stern in seinem Zentrum. Darüber hinaus leuchten Supernova-Überreste und planetarische Nebel in mehreren Wellenlängen außerhalb des Ultraviolettbereichs, während weitere Forschungen ergaben, dass der Blue Ring Nebula dies nicht tut.

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Video-Link: https://youtu.be/WY8J8hFHhiw

 

Ein Phantom-Planet

Im Jahr 2006 betrachtete das GALEX-Team den Nebel mit dem 5,1-Meter Hale Telescope am Palomar Observatory im San Diego County (Kalifornien) und danach mit den noch leistungsfähigeren 10-Meter Teleskopen am W. M. Keck Observatory auf Hawaii. Die Wissenschaftler fanden Hinweise auf eine Schockwelle in dem Nebel, was dafür sprach, dass das Gas, aus dem der Blue Ring Nebula besteht, tatsächlich durch ein gewaltiges Ereignis in der Nähe des Zentralsterns abgestoßen wurde. Die Keck-Daten deuteten zudem darauf hin, dass der Stern große Mengen Materie auf seine Oberfläche zog. Aber woher stammte die Materie?

“Eine recht lange Zeit dachten wir, dass dort vielleicht ein Planet mit mehreren Jupitermassen von dem Stern auseinandergerissen wird und dass dieser Prozess all das Gas aus dem System herauskatapultiert”, sagte Mark Seibert, ein Astrophysiker der Carnegie Institution for Science und Mitglied des GALEX-Teams am California Institute of Technology (Caltech), dem Betreiber des JPL.

Aber das Team wollte mehr Daten. Im Jahr 2012 nutzte das GALEX-Team die erste Durchmusterung des gesamten Himmels, die von dem Wide-field Infrared Survey Explorer (WISE) durchgeführt wurde. WISE war ein Weltraumteleskop der NASA, das den Himmel in infraroten Wellenlängen beobachtete, und wurde mittlerweile als asteroidenjagende Mission NEOWISE reaktiviert. Auf den Bildern identifizierte das GALEX-Team eine Staubscheibe, die den Stern in geringer Entfernung umkreist. Archivdaten dreier anderer Infrarotobservatorien, darunter das Spitzer Space Telescope, zeigten die Scheibe ebenfalls.

Die Entdeckung schloss nicht die Möglichkeit aus, dass auch ein Planet den Stern umkreiste. Aber letztendlich konnte das Team zeigen, dass die Scheibe und die in den Weltraum geschleuderte Materie von etwas größerem kamen als einem Planeten, sogar einem Riesenplaneten. Dann, im Jahr 2017, bestätigte der Habitable Zone Planet Finder am Hobby-Eberly Telescope in Texas, dass es kein kompaktes Objekt in einer Umlaufbahn um den Stern gibt.

Mehr als ein Jahrzehnt nach der Entdeckung des Blue Ring Nebula hatte das Team Daten von vier Weltraumteleskopen und vier bodenbasierten Teleskopen über das System gesammelt. Sie verwendeten historische Beobachtungen des Sterns, die bis ins Jahr 1895 zurückreichen, um nach Helligkeitsveränderungen im Verlauf der Zeit zu suchen. Sie berücksichtigen auch Daten, die mit der Hilfe von Bürgerwissenschaftlern und der American Association of Variable Star Observers (AAVSO) gesammelt wurden. Aber eine Erklärung dafür, was den Nebel entstehen ließ, blieb ihnen noch verwehrt.

Stellare Detektivarbeit

Als Keri Hoadley im Jahr 2017 mit dem GALEX-Wissenschaftsteam zu arbeiten begann, “war die Gruppe mit dem Blue Ring Nebula gewissermaßen vor die Wand gerannt”, sagte sie. Aber Hoadley, eine Astrophysikerin am Caltech, war von dem Objekt und seinen bizarren Strukturen fasziniert, also akzeptierte sie die Herausforderung, um zu versuchen, das Rätsel zu lösen. Es schien wahrscheinlich, dass die Lösung nicht durch mehr Beobachtungen des Systems kommen würde, sondern aus modernen Theorien, die die existierenden Daten sinnvoll erklären.

Also wandte sich Chris Martin, der leitende Wissenschaftler der GALEX-Mission am Caltech, an Brian Metzger von der Columbia University und bat um Hilfe. Als theoretischer Astrophysiker erstellt Metzger mathematische Modelle und Berechnungsmodelle von kosmischen Phänomenen, die genutzt werden können um vorherzusagen, wie diese Phänomene aussehen und sich verhalten werden. Er ist auf kosmische Verschmelzungen spezialisiert – Kollisionen zwischen einer Vielzahl an Objekten von Sternen und Planeten bis hin zu Schwarzen Löchern. Mit Metzger an Bord und unter Führung von Hoadley gingen die Dinge schnell voran.

“Brian konnte die Daten, die wir sahen, nicht nur erklären. Er sagte im Grunde voraus, was wir beobachtet hatten, bevor er selbst es sah”, sagte Hoadley. “Er würde sagen: ‘Wenn dies eine stellare Verschmelzung ist, dann solltet ihr dies und das sehen’ und wir antworteten ‘Ja! Wir sehen das!’.”

Das Team schlussfolgerte, dass der Nebel das Ergebnis einer relativ jungen stellaren Verschmelzung ist, an der wahrscheinlich ein sonnenähnlicher Stern und ein Stern von einem Zehntel der Masse (etwa 100 Jupitermassen) beteiligt waren. Der sonnenähnliche Stern näherte sich dem Ende seines Lebens und begann sich aufzublähen und seinem Begleiter näher zu kommen. Letztendlich fiel der kleinere Stern in einer Abwärtsspirale in Richtung seines größeren Begleiters. Auf dem Weg riss der größere Stern den kleineren auseinander und hüllte sich selbst in einen Ring aus Überresten, bevor er den kleineren Stern komplett verschlang.

Diese Grafik zeigt das Zustandekommen des Blue Ring Nebula von der Erde aus betrachtet. (Credits: Mark Seibert)
Diese Grafik zeigt das Zustandekommen des Blue Ring Nebula von der Erde aus betrachtet. (Credits: Mark Seibert)

Dies war das gewaltige Ereignis, das zur Entstehung des Blue Ring Nebula führte. Die Verschmelzung katapultierte eine Wolke aus heißen Überresten in den Weltraum, die durch die Gasscheibe in zwei Teile gespalten wurde. Das erschuf zwei kegelförmige Wolken, die sich in entgegengesetzte Richtungen von dem Stern entfernen und mit zunehmender Entfernung breiter werden. Die Basis von einer der kegelförmigen Strukturen zeigt fast direkt in Richtung Erde und die andere zeigt fast direkt von der Erde weg. Sie sind zu schwach, um separat gesehen zu werden, aber die Region, in der sich die Strukturen (von der Erde aus betrachtet) überlagern, bildet den von GALEX beobachteten zentralen blauen Ring.

Die Jahrtausende vergingen. Die expandierende Wolke aus Überresten kühlte sich ab und bildete Moleküle und Staub, darunter Wasserstoffmoleküle, die mit dem interstellaren Medium kollidierten. Als interstellares Medium wird der Raum zwischen den Sternen bezeichnet, der sehr dünn mit Atomen und energiereichen Teilchen gefüllt ist. Die Kollisionen regten die Wasserstoffmoleküle an und ließen sie in einer bestimmten fernultravioletten Wellenlänge leuchten. Mit der Zeit wurde das Leuchten hell genug, um von GALEX registriert zu werden.

Stellare Verschmelzungen könnten in unserer Milchstraßen-Galaxie bis zu einmal alle zehn Jahre stattfinden. Das bedeutet, es ist möglich, dass eine Population der Sterne, die wir am Himmel sehen, ursprünglich zwei waren.

“Wir sehen viele Doppelsternsysteme, die eines Tages verschmelzen könnten, und wir denken, dass wir Sterne identifiziert haben, die vielleicht vor Millionen Jahren miteinander verschmolzen. Aber wir haben fast keine Daten darüber, was dazwischen geschieht”, sagte Metzger. “Wir vermuten, dass es wahrscheinlich viele junge Überreste von stellaren Verschmelzungen in unserer Galaxie gibt, und der Blue Ring Nebula könnte uns zeigen, wie sie aussehen, so dass wir mehr von ihnen identifizieren können.”

Dies mag wahrscheinlich die Lösung eines 16 Jahre alten Rätsels sein, aber es könnte zugleich auch der Beginn eines neuen Kapitels in der Untersuchung von stellaren Verschmelzungen sein. “Es ist erstaunlich, dass GALEX in der Lage war, dieses wirklich schwache Objekt zu finden, nach dem wir zwar nicht gesucht hatten, aber das sich als etwas wirklich Interessantes für Astronomen herausstellte”, sagte Seibert. “Es demonstriert erneut, dass man im Universum Dinge findet, die man sich nicht einmal vorstellt, wenn man es in einer neuen Wellenlänge oder auf eine neue Weise beobachtet.”

Das JPL ist eine Abteilung des California Institute of Technology und leitete die GALEX-Mission für das Science Mission Directorate der NASA. Die Mission wurde am Goddard Space Flight Center der NASA in Greenbelt (Maryland) im Rahmen des Explorers Program entwickelt. Das JPL leitete auch die Spitzer- und WISE-Missionen und betreibt die NEOWISE-Mission.

Quelle

(THK)

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