Am 1. August 2010 kam es zu gewaltigen Eruptionen auf einer Hemisphäre der Sonne. Magnetische Filamente brachen aus und explodierten, Schockwellen rasten über die Sonnenoberfläche und Milliarden Tonnen an heißem Plasma wurden in den Weltraum geschleudert. Die Wissenschaftsgemeinde wusste, dass sie soeben Zeuge von einem außergewöhnlichen Ereignis geworden war. So außergewöhnlich, dass es die gängigen Modelle der solaren Aktivität ins Wanken bringen könnte.
Karel Schrijver vom Solar and Astrophysics Lab in Palo Alto (Kalifornien) sagte: „Das Ereignis vom 1. August hat uns wirklich die Augen geöffnet. Wir sehen, dass Sonneneruptionen globale Ereignisse sein können, welche in Größenordnungen vorkommen, die wir uns vorher kaum vorstellen konnten.“
In den letzten drei Monaten arbeitete Schrijver mit dem Solarphysiker Alan Title daran, zu verstehen, was genau während der „Großen Eruption“ geschah. Dabei konnten sie auf Unmengen von Daten zurückgreifen. Das Ereignis wurde in beispiellos detailreicher Weise vom Solar Dynamics Observatory (SDO) der NASA und von dem Zwillingssatellitensystem STEREO dokumentiert. Im Rahmen einer Pressekonferenz der American Geophysical Union stellten sie kürzlich in San Francisco ihre Ergebnisse vor.
Demnach sind Sonneneruptionen keine lokal begrenzten oder isolierten Phänomene, sondern die solare Aktivität ist durch Magnetfelder auch über gigantische Entfernungen miteinander verbunden. Solare Flares (energiereiche Strahlungsausbrüche), Schockwellen und koronale Masse-Auswürfe können gleichzeitig stattfinden, obwohl Tausende von Meilen voneinander entfernt. Es sei ein „schwindelerregend komplexes Konzert der Gewalt“.
Title fügte hinzu: „Um Eruptionen vorherzusagen, können wir uns nicht länger auf die Magnetfelder von isolierten, aktiven Regionen beschränken. Wir müssen praktisch das Oberflächen-Magnetfeld der gesamten Sonne kennen.“
Das erschwert natürlich die Arbeit der Wissenschaftler, die sich mit der Vorhersage des Weltraumwetters beschäftigen. Allerdings erhöht sich mit der Einbeziehung des gesamten Magnetfeldes auch die potenzielle Genauigkeit der Vorhersagen.
„Dieser Ansatz könnte zu Durchbrüchen in der Vorhersage des Weltraumwetters führen“, kommentierte Rodney Viereck vom Space Weather Prediction Center der NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration) in Boulder, Colorado die Studie von Schrijver und Title. Dadurch könne man den Kunden, etwa Betreibern von Elektrizitätswerken oder kommerzielle Airlines, bessere Vorhersagen bieten, weshalb sie ihrerseits in der Lage wären, schneller zu reagieren und die Sicherheit der Systeme, beziehungsweise der Passagiere und Crew zu gewährleisten.
In einer Arbeit für das Journal of Geophysical Research (JGR) unterteilten Schrijver und Title die „Große Eruption“ in mehr als ein Dutzend starker Schockwellen, Flares, Ausbrüche von Filamenten und koronalen Masse-Auswürfen, welche 180 Grad der solaren Längengrade umfassten und 28 Stunden andauerten. Es sah zunächst nach einer Ansammlung von Unordnung und Chaos aus, bis sie die Ereignisse über eine Magnetfeldkarte der Sonne legten.
Title beschreibt den Heureka!-Moment: „Wir sahen, dass all diese Ereignisse über ein weitreichendes System aus Separatrizen und quasi-separatrix-artigen Schichten miteinander verbunden waren.“ Eine Separatrix (Plural: Separatrizen) ist eine magnetische Störzone, in der kleine Änderungen in umgebenden Plasmaströmen große elektromagnetische Stürme auslösen können.
Wissenschaftler vermuten schon seit über 70 Jahren, dass solch ein Zusammenhang zwischen Sonneneruptionen und dem Magnetfeld möglich ist. Manchmal sahen Beobachter einen Ausbruch nach dem anderen, aber es war nicht möglich, eine Verbindung zwischen ihnen zu beweisen. Argumente für das Prinzip der Ursache und Wirkung waren oftmals nur statistischer Natur und wurden daher angezweifelt.
Lika Guhathakurta vom Living with a Star Program der NASA betonte die Wichtigkeit des Solar Dynamics Observatory und der beiden Zwillingssatelliten des STEREO-Programms für diese Art der wissenschaftlichen Arbeit: „Zusammen beobachten die drei Satelliten über 97 Prozent der Sonne, was den Forschern erlaubt, Zusammenhänge zu erkennen, über die sie in der Vergangenheit nur Vermutungen anstellen konnten.“
Nur zwei Drittel der Ereignisse vom 1. August 2010 waren von der Erde aus sichtbar, aber die drei Satelliten konnten alle Vorgänge beobachten. Mehr noch: Die Magnetfeldmessungen des SDO enthüllten direkte Verbindungen zwischen einzelnen Ereignissen der „Großen Eruption“ – es waren keine Statistiken mehr erforderlich.
Aber es bleibt noch viel zu tun. „Wir trennen immer noch Ursache und Wirkung“, sagte Schrijver. „War das Ereignis eine große Kettenreaktion, in der eine Eruption die nächste auslöste? Oder traten sie gemeinsam auf, als Folge einer größeren Veränderung im solaren Magnetfeld?“
Weitere Analysen könnten den Auslöser offenbaren. Derzeit beschäftigt sich das Team intensiv mit dem globalen Charakter der Sonnenaktivität. Ein Kommentator verglich ihre Aufgabe mit der Redewendung, in der drei Blinde einen Elefanten beschreiben sollen – einer durch Fühlen des Rüssels, einer durch Halten des Schwanzes und einer durch Riechen am Zehennagel.
„Nicht alle Eruptionen werden global“, sagte Guhathakurta abschließend. „Aber der globale Charakter der Sonnenaktivität kann nicht länger ignoriert werden.“
(THK)
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