Ein Virentyp, der die Wasserproben aus den Ozeanen der Welt dominiert, hat sich lange der Analyse entzogen, weil er Eigenschaften besitzt, die Standardtests nicht nachweisen können. Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und des Albert Einstein College of Medicine ist es jetzt allerdings gelungen, Exemplare dieser schwer fassbaren Viren zu isolieren und zu untersuchen. Sie stellen ein fehlendes Bindeglied in der Virus-Evolution dar und spielen eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Bakterienpopulationen, wie eine neue Studie berichtet.
Viren sind die Hauptfeinde von Bakterien und die Ergebnisse sprechen dafür, dass die aktuelle Sicht auf die Vielfalt von Bakteriophagen einen großen blinden Fleck aufweist. Diese Schlussfolgerung ergab sich aufgrund detaillierter Probenanalysen, geleitet von der Doktorandin Kathryn Kauffman (MIT), dem Professor für Umwelttechnik Martin Polz (MIT) und der Professorin Libusha Kelly (Albert Einstein College of Medicine) sowie neun weiteren. Die Ergebnisse werden diese Woche im Journal Nature veröffentlicht.
Den neu identifizierten Viren fehlt der „Schwanz“, den die meisten katalogisierten und sequenzierten Bakteriophagen besitzen. Außerdem haben sie mehrere andere ungewöhnliche Eigenschaften, die dazu geführt haben, dass sie von früheren Studien übersehen wurden. Zu Ehren dieser Tatsache gaben die Forscher dieser neuen Gruppe den Namen Autolykiviridae – nach einer Figur aus der griechischen Mythologie, die Erzählungen zufolge schwer zu fangen war. Und im Gegensatz zu typischen Viren, die nur ein oder zwei Bakterientypen befallen, können diese schwanzlosen Varietäten Dutzende verschiedene Typen oft unterschiedlicher Spezies infizieren, was ihre ökologische Bedeutung unterstreicht.
Diese Forschungsarbeit eröffnet neue Möglichkeiten, um unser Wissen über die Rolle der Viren im Ozean zu erweitern“, sagte Jed Fuhrman, der McCulloch-Crosby Chair of Marine Biology an der University of Southern California, der nicht an der Studie beteiligt war. „Auf praktische Art und Weise zeigt sie auch, wie wir einige häufig genutzten Methoden verändern müssen, um diese Art von Viren für diverse Untersuchungen einzufangen“, sagte er. „Ich würde sagen, das ist ein bedeutender Fortschritt auf dem Gebiet.“
Aktuelle Umweltmodelle zu Virus-Bakterien-Interaktionen basieren auf den gut untersuchten Viren mit Schwanz, daher könnten sie laut Kauffman wichtige Aspekte der in der Natur stattfindenden Interaktionen übersehen.
„Wir wussten bereits, dass Viren dort von großer Bedeutung sind“, sagte Kauffman, die sich dabei auf das Oberflächenwasser bezieht, woher die Proben stammen. Dort existieren ungefähr 10 Millionen Viren pro Milliliter Wasser.
Polz zufolge haben die meisten in Laboren untersuchten Viren einen Schwanz, aber die meisten im Ozean lebenden Viren besitzen keinen. Deshalb entschied sich das Team, eine Untergruppe von schwanzlosen Viren zu untersuchen, welche eine Bakteriengruppe namens Vibrio infiziert. Nach umfangreichen Tests stellten sie fest, dass einige von ihnen eine ungewöhnlich große Anzahl Wirte befällt.
Nach der Sequenzierung von Exemplaren der Autolykiviridae fanden die Forscher heraus, dass deren Genome sich deutlich von jenen anderer Viren unterscheiden. „Beispielsweise sind ihre Genome sehr klein: Etwa 10.000 Basen, verglichen mit den normalerweise 40.000-50.000 bei Viren mit Schwanz. Als wir das feststellten, waren wir überrascht“, sagte Polz.
Mit den neuen Sequenzierungsdaten konnten die Forscher Datenbanken durchsuchen und erkennen, dass solche Viren an vielen Orten existieren. Die Studie zeigte auch, dass diese Viren in Datenbanken unterrepräsentiert sind, was daran liegt, wie die Proben üblicherweise in Laboren behandelt werden. Die von dem Team entwickelten Methoden, um diese Viren aus Proben zu isolieren, könnte Forschern helfen, einen solchen Informationsverlust in Zukunft zu vermeiden.
Im Allgemeinen weisen Forscher virale Aktivitäten nach, indem sie Bakterien mit den viralen Proben infizieren und die Proben dann einen Tag später überprüfen, um nach Anzeichen zu schauen, dass die Bakterien stellenweise abgetötet wurden. Aber diese speziellen, schwanzlosen Viren agieren oft langsamer und die Stellen mit den abgetöteten Bakterien zeigen sich nicht, bevor mehrere Tage vergangen sind. Aus dem Grund wurde ihre Anwesenheit in den meisten Studien nie bemerkt.
Die neue Virengruppe könnte besonders weit verbreitet sein. „Wir denken nicht, dass sie auf die Ozeane beschränkt ist“, sagte Polz. Zum Beispiel könnten die Viren sogar im menschlichen Biom vorkommen, und sie könnten eine Rolle in wichtigen biogeochemischen Kreisläufen spielen, etwa dem Kohlenstoffkreislauf.
Ein wichtiger Aspekt dieser Ergebnisse ist, dass die Autolykiviridae Mitglieder einer alten viralen Abstammungslinie sind, die durch bestimmte Kapsidtypen definiert ist – das ist die Proteinhülle, die die virale DNA einschließt. Obwohl diese Abstammungslinie als sehr vielfältig in Tieren bekannt ist und Viren wie den menscheninfizierenden Adenovirus und den algenbefallenden Riesenvirus umfasst, waren nur sehr wenige Viren dieser Art bekannt, die Bakterien befallen.
„Diese Arbeit verändert grundlegend die Theorien zur Zusammensetzung des marinen Viroms, indem sie zeigt, dass die Anzahl kleiner, schwanzloser Viren vergleichbar mit der Anzahl der Viren mit Schwanz ist, von denen man dachte, dass sie die Virosphäre dominieren“, sagte Eugene V. Koonin. Koonin ist ein Seniorforscher der National Institutes of Health und hat nicht an dieser Studie mitgewirkt. „Diese Arbeit ist auch wichtig, um die Evolution der Virenwelt zu verstehen, weil sie belegt, dass Viren, die zumindest hinsichtlich ihrer Kapsidstruktur mit den häufigsten Viren in Eukaryoten (etwa Adenoviren, Pockenviren und andere) verwandt sind, in Prokaryoten viel stärker verbreitet sind als bisher vermutet.“
„Ich frage mich weiterhin, ob die hier beschriebenen Viren nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs darstellen könnten, weil Kapsidproteine in ihrer Sequenz hochgradig verschieden sein könnten, so dass viele sogar bei Suchen in umfangreichen Datenbanken nicht auftauchen. Die Ergebnisse haben auch eine praktische Bedeutung, weil die schwanzlosen Viren eine wichtige ökologische Rolle im Ozean zu spielen scheinen und für die Abtötung eines beachtlichen Teils der Bakterien verantwortlich sind“, ergänzte Koonin.
Diese Arbeit wurde von der National Science Foundation und dem Ocean Ventures Fund der Woods Hole Oceanographic Institution unterstützt.
(THK)
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