
Wissenschaftler haben kaulquappenförmige Jets entdeckt, die aus Regionen mit intensiven Magnetfeldern auf der Sonne herausschießen. Die formal als „Pseudoschocks“ bezeichneten Strukturen bestehen komplett aus Plasma, dem elektrisch leitenden Material aus geladenen Teilchen, das geschätzte 99 Prozent des beobachtbaren Universums ausmacht. Die Entdeckung gibt einen neuen Hinweis auf eines der am längsten bestehenden Rätsel in der Astrophysik.
Seit 150 Jahren versuchen Wissenschaftler herauszufinden, warum die dünne, obere Atmosphäre der Sonne (die Korona) über 200 Mal heißer ist als die Sonnenoberfläche. Diese Region, die sich Millionen Kilometer weit erstreckt, wird irgendwie stark aufgeheizt und setzt kontinuierlich hochgradig geladene Teilchen frei, die mit Überschallgeschwindigkeit durch das Sonnensystem rasen.
Wenn diese Teilchen in Erdnähe gelangen, können sie Satelliten und Astronauten Schaden zufügen, die Telekommunikation stören und während besonders starker Ereignisse sogar Stromnetze lahmlegen. Zu verstehen, wie die Korona so heiß wird, kann uns letztendlich helfen, die grundlegende Physik hinter der Ursache dieser Störungen zu begreifen.
In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler weitgehend zwei mögliche Erklärungen für die koronale Aufheizung debattiert: Nanoflares und elektromagnetische Wellen. Die Nanoflare-Theorie schlägt bombenähnliche Explosionen vor, die Energie in der solaren Atmosphäre freisetzen. Sie sind Geschwister der größeren Sonnenflares und sollen auftreten, wenn sich die magnetischen Feldlinien in explosiver Weise neu verbinden, wobei sie einen Schwall an heißen, geladenen Teilchen freisetzen.
Eine alternative Theorie schlägt einen Typ elektromagnetischer Welle vor, der als Alfvén-Wellen bezeichnet wird. Diese Wellen könnten geladene Teilchen in die Atmosphäre drücken, so wie eine Meereswelle einen Surfer vor sich herschiebt. Wissenschaftler denken jetzt, dass die Korona durch eine Kombination von Phänomenen wie diesen aufgeheizt werden könnte, statt durch ein einzelnes allein.
Die neue Entdeckung der Pseudoschocks bringt einen neuen Spieler auf das Feld. Insbesondere könnten sie während bestimmter Zeiten zur Aufheizung der Korona beitragen, nämlich wenn die Sonne aktiv ist. Solche solaren Maxima, die aktivsten Zeitspannen des elfjährigen Sonnenzyklus, sind durch eine Zunahme an Sonnenflecken, Sonnenflares und koronalen Massenauswürfen gekennzeichnet.
Die Entdeckung der Pseudoschocks war etwas vom Zufall geprägt. Bei der kürzlichen Analyse von Daten des Interface Region Imaging Spectrograph (IRIS) bemerkten Wissenschaftler einzigartige längliche Jets, die aus Sonnenflecken hervorschossen und bis zu 4.800 Kilometer hoch in die innere Korona aufstiegen. Sonnenflecken sind kühle, magnetisch aktive Gebiete auf der Sonnenoberfläche. Die Jets mit dicken Köpfen und sich verdünnenden Schweifen sahen für die Forscher aus wie Kaulquappen, die durch die solaren Schichten schwimmen.
„Wir suchten nach Wellen und Plasmaausstößen, aber stattdessen bemerkten wir diese dynamischen Pseudoschocks ähnlich wie abgelöste Plasmajets, die nicht wie echte Schockwellen waren, aber sehr energiereich sind, um die Strahlungsverluste der Sonne wiederaufzufüllen“, sagte Abhishek Srivastava vom Indian Institute of Technology (BHU) in Varanasi (Indien). Er ist der Hauptautor der neuen Abhandlung im Journal Nature Astronomy

Mittels Computersimulationen, die zu den Ereignissen passten, stellten sie fest, dass diese Pseudoschocks genug Energie und Plasma übertragen können, um die innere Korona aufzuheizen. Die Forscher vermuten, dass die Pseudoschocks durch magnetische Rekonnexion abgestoßen werden – eine explosive Neuausrichtung der magnetischen Feldlinien, die oft in und um Sonnenflecken herum stattfindet. Die Pseudoschocks wurden bislang nur an den Rändern der Sonnenflecken beobachtet, aber die Forscher gehen davon aus, dass sie auch in anderen hochgradig magnetischen Regionen vorkommen.
In den letzten fünf Jahren hat IRIS während seiner mehr als 10.000 Erdumkreisungen die Sonne beobachtet. IRIS ist eines von mehreren Weltraumsonnenobservatorien der NASA, die die Sonne in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich beobachtet haben. Zusammen arbeiten sie daran, die Debatte zur koronalen Aufheizung zu beenden und andere Geheimnisse der Sonne zu entschlüsseln.
„Von Beginn an haben sich die wissenschaftlichen Untersuchungen von IRIS auf die Kombination hochauflösender Beobachtungen der solaren Atmosphäre mit numerischen Simulationen konzentriert, die grundlegende physikalische Prozesse nachzeichnen“, sagte Bart De Pontieu vom Lockheed Martin Solar & Astrophysics Laboratory in Palo Alto (Kalifornien). „Diese Studie ist eine schöne Illustration dessen, wie solch ein koordinierter Ansatz zu neuen physikalischen Einblicken in die Ursachen der Dynamiken in der Sonnenatmosphäre führen kann.“
Das neuste Mitglied der NASA-Heliophysikflotte, die Parker Solar Probe, könnte weitere Anhaltspunkte zum Rätsel der koronalen Aufheizung beisteuern. Die Raumsonde startete im Jahr 2018 und fliegt durch die Sonnenkorona, um zu verfolgen, wie sich die Energie und Hitze durch die Region bewegen und um zu erkunden, was den Sonnenwind und die energiereichen Teilchen der Sonne beschleunigt. Die Untersuchungen der Parker Solar Probe betrachten Phänomene weit oberhalb der Region, wo die Pseudoschocks vorkommen, und sollen Licht auf andere Aufheizungsmechanismen wie Nanoflares und elektromagnetische Wellen werfen. Diese Arbeit wird die mit IRIS durchgeführte Forschung ergänzen.
„Dieser neue Aufheizungsmechanismus könnte mit den Untersuchungen der Parker Solar Probe verglichen werden“, sagte Aleida Higginson, stellvertretende Projektwissenschaftlerin der Parker Solar Probe am Applied Physics Laboratory der Johns Hopkins University in Laurel (Maryland). „Zusammen könnten sie ein umfassendes Bild der koronalen Aufheizung zeichnen.“
(THK)
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